Zu Prof. Gertels Forschung auf den Gebieten Urbane Räume und Metropolen Nahrungssysteme und Ernährungssicherung und Mobilität und Markt sind zahlreiche Publikationen erschienen. Hier finden Sie eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Werke und dazugehörige Rezensionen.
In den vergangenen Jahren haben im Nahen Osten und in Nordafrika nicht nur Terroranschläge, bewaffnete Konflikte und Kriege zugenommen, die ökonomische Lage und die Arbeitsmarktsituation sind in vielen arabischen Ländern sehr problematisch und junge Menschen sind dabei regelmäßig am stärksten betroffen. Dennoch ist ihre genaue Situation sowohl innerhalb als auch außerhalb der Region weitgehend unbekannt. Zwar ist im Gefolge des Arabischen Frühlings (2011) das Interesse an Jugendlichen, die häufig als Protagonisten der Aufstände gelten, neu erwacht, und vielzählige Dokumentationen, nationale Befragungen und kleinteilige Analysen sind entstanden. Doch eine systematische, länderübergreifende Untersuchung von Jugendlichen der MENA-Region, die auf intensiven und vergleichbaren Einzelinterviews beruht, existierte bisher nicht. Die vorliegende Studie, die hier ansetzt, beschäftigt sich daher mit zwei Fragen: Wie gestalten sich die Lebenswelten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling; und wie gehen sie mit den neuen Ungewissheiten und Unsicherheiten ihres Alltages um? Zwei strukturelle Dynamiken treffen für junge Menschen zusammen: Einerseits ist gerade die Jugendzeit durch die Verunsicherungen, eine persönliche Position und eine eigene Rolle in der Gesellschaft zu finden, charakterisiert; diese Reise in das Erwachsenwerden ist in vielen Stadien ungewiss. Andererseits sind es die prekären und vielfach instabilen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der MENA-Region, die die Jugendphase für junge Menschen nochmals erschweren. Unsicherheit manifestiert sich dabei als Ausgeliefertsein gegenüber Gewalthandlungen und als mangelnder Zugang zu Ressourcen wie im prekären Arbeitsmarkt. Erst die Verfügung über Ressourcen generiert das Vermögen zum Handeln. Während also Unsicherheit gegenwärtigen im Alltag wirkt, beziehen sich Ungewissheit auf die Zukunft. Welche Möglichkeiten haben Jugendliche und junge Erwachsene, mit oft angstbesetzter Ungewissheit umzugehen und eine hoffnungsvolle Zuversicht zu leben? Die vorliegende Publikation zeigt dies exemplarisch auf und stellt zentrale Ergebnisse der bisher umfangreichsten Befragung dieser Gruppe in der arabischen Welt vor.
Rezensionen: Englische Ausgabe
Gertel, Jörg & Hexel, Ralf (eds.) Coping with Uncertainty, Youth in the Middle East and North Africa. London: Saqi 2018.
"A critically important and sophisticated study of youth in the Middle East following the Arab Spring, the global financial crises, and recent waves of migration, war, and refugees. It is a must-read to understand how young people maintain their optimism and deeply-held values as they negotiate insecurity and precariousness."
Diane Singerman, American University, Washington DC, author of Avenues of Participation (Princeton University Press)
"Youth in the Middle East continue to figure prominently in both political dissent and economic deprivation. The surveys and analyses in this book provide some of the best sources to understand the status of Arab youth in the years after the Arab Spring."
Asef Bayat, University of Illinois, author of Revolution without Revolutionaries: Making Sense of the Arab Spring (Stanford University Press)
"This is a most useful contribution to the understanding of the upheaval that is shaking the Arab world, a diligent investigation whose value is enhanced by the dearth of reliable statistical sociological surveys of the region."
Gilbert Achcar, SOAS University of London, author of The People Want: A Radical Exploration of the Arab Uprising (Saqi London/ Beirut)
Rezensionen: Deutsche Ausgabe
Gertel, Jörg & Hexel, Ralf (Hrsg.): Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika. Bonn: Dietz 2017
"In dieser Studie werden erstmals Perspektiven, Erfahrungen und Haltungen arabischer Jugendlicher und junger Erwachsener in dieser Breite und Tiefe einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Die Analyse ist empirisch exzellent fundiert und bleibt nah an den jungen Menschen, ihren Ängsten, Sorgen und Hoffnungen."
Prof. Dr. Cilja Harders, Leiterin der Arbeitsstelle Politik im Maghreb, Mashreq und Golf, Otto-Suhr- Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin
"Die Studie geht auf alle wichtigen Lebensbereiche ein und hat eine sehr große analytische Tiefenschärfe. Es wird deutlich, wie wirtschaftliche Probleme es jungen Menschen in der MENA-Region unmöglich machen, ihre Rolle als innovative Kraft in der jeweiligen Gesellschaft auszufüllen. Dennoch legen sie einen erstaunlichen Grundoptimismus an den Tag."
Professor Dr. Klaus Hurrelmann, Herti School of Governance.
"Wir erhalten erhellende Einblicke in die Ungewissheit, aber auch Zuversicht junger Menschen in den arabischen Ländern, die im Frühjahr 2011 für Freiheit, soziale und wirtschaftliche Teilhabe auf die Straße gingen. Die Studie ist eine gute Handlungsgrundlage für die jeweiligen Regierungen und Gesellschaften, aber auch für uns als Nachbarn der MENA-Region."
Günter Gloser, Staatsminister a. D. im Auswärtigen Amt, ehemaliger Vorsitzender der Parlamentariergruppe „Beziehungen zum Maghreb“ im Deutschen Bundestag
Der mediterrane Raum erlebt jüngst eine rapide Ausdehnung der landwirtschaftlichen Exportproduktion von Obst und Gemüse. Diese hängt maßgeblich von saisonalen Arbeitskräften ab, die vor allem aus Nordafrika, Osteuropa und Lateinamerika stammen. Kommerzielle Exportproduktion und prekäre Arbeitsmigration sind dabei nicht nur verflochten, sie sind auch hochgradig dynamisch. So zeigt die Edition wie sich aus kleinen landwirtschaftlichen Familienbetrieben eine industrialisierte und hochgradig integrierte Landwirtschaft entwickelt hat, bei der Saisonarbeitskräfte von weit entfernten Ländern flexibel rekrutiert und bei der Standards für Anbau und Vermarktung zunehmend von Einzelhandelsketten wie Metro und Aldi diktiert werden und die Produktionsbedingungen prägen. Gleichzeitig haben veränderte Ernährungsgewohnheiten von Konsumenten die ganzjährige Nachfrage von frischem Obst und Gemüse befördert und dazu geführt, dass die Produktionsstandorte immer weiter in den Süden verlagert werden, um frühere Ernten zu ermöglichen, Energiekosten zu sparen und gleichzeitig neue Arbeitsmärkte zu erschließen. So wird die Gewächshauproduktion auf Zehntausenden von Hektar von Frankreich nach Spanien und schließlich nach Marokko und dort wiederum weit in den Süden bis in die Randlagen der Sahara verschoben. Die Autoren, die intensiv zu Frankreich, Spanien und Marokko geforscht haben, beleuchten wie frisches Obst und Gemüse, das wir in unseren Supermärkten angeboten bekommen, aufgeladen ist mit unsichtbaren Geschichten von Gewinnstreben, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unsicherheit. Die versteckten Kosten des industrialisierten Nahrungssystems bekommen somit ein Gesicht.
"Seasonal Workers in Mediterranean Agriculture looks behind the façade of a modern agro-food industry that links not just producing regions in France, Spain and Morocco but sources of migratory labor from North Africa, Eastern Europe and Latin America without which the entire system would yield neither fresh produce nor profit. This excellent monograph, based on exceptionally rich historical and ethnographic case studies, exposures the ugly underbelly and the radical precarity of a contemporary industrial agriculture operating in the long shadow of economic and social crisis. The authors provide a path-breaking and yet unsettling account of the social life of what passes as fresh and sustainable produce. A tour de force."
Michael Watts, Professor of Geography, Class of 1963 Chair, University of California, Berkeley, USA, author of Silent Violence: Food, Famine and Peasantry in Northern Nigeria and co-editor of books such as Globalizing Food: Agrarian Questions and Global Restructuring; Liberation Ecologies; Violent Environments; and Living under Contract.
"Proof yet again there is no such thing as a free, or even cheap, lunch! Seasonal Workers in Mediterranean Agriculture reminds us that what appear as externalized costs for consumers are deeply and literally internalized for the millions who toil so we can eat fresh. It is a sophisticated book with many important take-home messages, one of which being that we can’t afford to keep eating this way."
Michael Carolan, Professor and Chair of Sociology at Colorado State University, USA and author of such books as The Real Cost of Cheap Food, Reclaiming Food Security, and Cheaponomics: The High Cost of Low Prices.
"Focusing upon Mediterranean agriculture, but drawing upon case studies from throughout the world, this collection offers a fascinating and detailed account of contemporary agrarian change. Contributors provide extensive evidence about how the burgeoning trade in fresh fruit and vegetables has produced a number of hidden costs – including the exploitation of foreign workers as companies seek ways of reducing labor costs, and environmental degradation as a more industrial form of agriculture takes hold. The book demonstrates that while ‘eating fresh’ might engender visions of happy and healthy consumers, a more nuanced examination of the spatio-temporal dynamics of agri-food globalization reveals an underside of social disadvantage and ecological destruction. In presenting an up-to-date and vivid account of social relations in the fresh fruit and vegetable trade, this book is a ‘must read’ for all scholars desiring a critical understanding of current global food provisioning."
Geoffrey Lawrence, Professor of Sociology, University of Queensland, Australia and President, International Rural Sociology Association.
Die arabischen Großstädte sind prominente Orte, an denen sich Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung artikulieren und öffentlich sichtbar werden. Jugendliche, die Hauptinitiatoren des Arabischen Frühlings, stehen dabei im Mittelpunkt. Der Band beleuchtet ihre alltäglichen Handlungsspielräume im Rahmen wirtschaftlicher Zwänge und staatlicher Kontrolle sowie ihre Rolle in politischen Ordnungen. Die Beiträge zeigen, wie Widerstand und neue Initiativen die aktuellen Gesellschaftsentwürfe verändern und wie neue Vorstellungen von Heimat verhandelt werden. Die intensiven empirischen Studien vor Ort – in Rabat, Tunis, Algier, Kairo, Beirut, Ramallah, Dubai, Aden und Istanbul – lassen die Protagonisten zu Wort kommen und bieten einen differenzierten Blick auf das breite Spektrum des Jugendlichseins in den Städten der arabischen Welt.
„Das Buch beruht auf einer Zusammenarbeit der Mittelost-Institute Leipzig und Marburg. Es enthält, anschließend an die Einleitung und zwei einführende Beiträge, Fallstudien zu Jugendbewegungen in Nordafrika und dem „Nahen Osten“. Aufgelockert und ergänzt wird das Buch durch beeindruckende Bilder, welche den Text passgenau ergänzen. Zudem sind die Autor*innen erkennbar um Verständlichkeit bemüht, und das macht die Lektüre nicht nur für Fachgelehrte zu einer Bereicherung. (...). Alles in allem ein Buch mit vielen interessanten Facetten (...) mit Bezügen auf die Hungerpolitik des globalen Kapitalismus, die insbesondere Jörg Gertel zu verdanken sind, und mit spannenden Streiflichtern. Es bleibt zu hoffen, dass die eben erwähnten Fragen, die nach den Migrationsbewegungen und nach dem Verhältnis der Jugendbewegungen zu Bewaffnung und Gewalt, recht bald in ähnlich guten Büchern beschrieben werden.“
W.B.
„Die Ausbreitung der islamistischen Terrormiliz IS in der arabischen Welt lassen fast vergessen, dass erst vor kurzem der Arabische Frühling die Linke begeisterte. Von Jugendlichen initiiert entstanden Massenbewegungen, die zum Sturz langjähriger autoritärer Herrscher führten. Wissenschaftler der Universität Leipzig und vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien Marburg ließen sich durch diese Bewegungen zu einem ambitionierten Forschungsprojekt inspirieren und befragten Jugendliche aus unterschiedlichen Milieus in Algerien, Marokko, Tunesien, Dubai, Ägypten, Libanon und der Türkei. Die Ergebnisse sind nun als Buch erschienen, das auch für Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund gut verständlich ist.“
Peter Nowak (Buchrezensionen International) 22-10-2014
„Der Sammelband bietet intensive Einblicke in die Lebenswelten der arabischen Jugend und ermöglicht ein tieferes Verständnis der Hintergründe des Arabischen Frühlings.“
Simone Winkens in: Portal für Politikwissenschaft 12.2.2015
„Vor dem Hintergrund der Heterogenität des Jugendbegriffs, der unterschiedlichen Lebensbedingungen und Widerstandsformen bietet dieser Sammelband aus Blickwinkeln verschiedener Fachrichtungen interessante und facettenreiche Einblicke in das Thema Jugendbewegungen im urbanen Raum und deren Bedeutung für Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt. Die Lektüre kann Leser_innen jeglicher Fachdisziplinen nicht nur ein breitgefächertes Wissen zum "Arabischen Frühling", sondern auch viel Wissenswertes über die Lebenswelten arabischer Jugendlicher im Kontext der neoliberalen Globalisierung vermitteln.“
Dieser Band widmet sich der grundlegenden Frage nach der Bedeutung von Land. Der Sudan, ehemals der größte Staat Afrikas, steht exemplarisch für dramatische Veränderungen in den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Landnutzung. 2011 hat sich nicht nur der Südsudan vollständig vom Sudan gelöst und ist politisch unabhängig geworden, gleichzeitig bleibt der Zugang zu Land auf vielen Ebenen umstritten, die unterschiedlichen Interessen reichen dabei weit über nationale Grenzen hinaus. Territoriale Ansprüche werden von lokalen und internationalen Akteure verhandelt – von Ländern wie China sowie von global agierenden Banken und Staatsfonds; Grenzziehungen sind umkämpft, Verträge über die Privatisierung von Ressourcen wie Gold, Öl und Agrarland sind strittig, und lokale Verfügungsrechte stehen unter Druck. Unter den Dynamiken von Privatisierung, internationalem Landaufkauf und Ressourcenextraktion fragen wir, was passiert, wenn Land immer stärker zur Ware wird, während es für Millionen von Bauern und Nomaden die wichtigste Referenz ihrer Identität und die Grundlage ihrer Existenzsicherung ist. Neben strukturellen Analysen zur Ressourcenextraktion von Erdöl, Gold und Agrarland zeigen hochauflösende ethnographische Studien in Darfur, Süd Kordofan, der Red Sea Provinz, in Kassala, in der Region Blauer Nil und in Khartoum wie Bauern und Nomaden ihr Land erleben und angesichts der erneuten Welle von Privatisierung und Kommerzialisierung für ihre Landrechte und ihre Existenzsicherung streiten.
“A timely contribution to an important set of debates … about modernization, urbanisation and globalisation from an explicitly local angle with regards to Sudan.”
Harry Verhoeven, University of Oxford
„Given the concern with the growing number and complexity of conflicts in Sudan and South Sudan there is a significant readership in academic circles and from those in humanitarian organisations of all kinds.“
Peter Woodward, University of Reading
Die Proteste des Arabischen Frühlings verdeutlichen zweierlei: einerseits die grundlegenden Unzufriedenheiten und Unsicherheiten, die in den vergangenen 30 Jahren im Gefüge neoliberaler Globalisierung entstanden sind. Andererseits entlarven sie unsere Unwissenheit über lokale Alltagsbezüge, die trotz einer digitalen Informationsflut sogar zu wachsen scheint. »Alltagsmobilitäten« stellt diesen Zusammenhängen situatives Wissen entgegen. Es bezieht sich auf Personen und Gruppen, die sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zwischen Orten, Schichten und Identitäten bewegen. Ausgehend vom Kern der marokkanischen Ökonomie, der Landwirtschaft und anhand wirtschaftlicher Regionalisierungs- und Urbanisierungsvorgänge untersuchen wir, wie die Moderne in Marokko eindringt und, beschleunigt durch die Kräfte einer neoliberalen Globalisierung, lokale Lebenswelten aufbricht, Lebenszusammenhänge fragmentiert, gesellschaftliche Bezüge immer stärker entgrenzt und neue soziale Landschaften hervorbringt. Im Fokus stehen dabei Prozesse, Dynamiken und Konflikte, die innerhalb von Marokko ausgetragen werden, jedoch in globale Verflechtungen eingebunden sind, bis in die Diaspora und in virtuelle Räume Konsequenzen entfalten, um sich oft von dort aus wiederum in lokale Zusammenhänge zurück zu übersetzen. Die Beiträge, die auf intensiven Feldstudien beruhen, bieten neue Einblicke in die Ursachen und Ausprägungen gesellschaftlicher Aufbrüche – im doppelten Sinne: Analysiert wird das Zerbrechen historisch gewachsener sozialer Zusammenhänge ebenso wie das Sich-Aufmachen in eine widersprüchliche, unsichere, jedoch auch neue Chancen bietende Zukunft.
Nomaden scheinen aus unserem Alltag fast vollständig verschwunden zu sein. Doch die Abhängigkeit von Mobilität, die Bewältigung finanzieller Unsicherheiten sowie der ausgewogene Umgang mit unserer Umwelt fordern alle, auch ›moderne‹ Gesellschaften heraus. In der Wahrnehmung von Sesshaften verkörpern Nomaden und andere Mobile bis heute allerdings oft das Rückständige, Fremde und Bedrohliche, besonders im Hinblick auf staatliche Ordnungen. Dieser Band zeigt Nomaden hingegen als frühe Globalisierer. Er verdeutlicht, welche Flexibilität sie im Umgang mit widrigen Bedingungen entfalten, wie sie ihr Überleben in karger Umwelt gestalten und wie es ihnen gelingt, über Jahrtausende nachhaltig mit knappen Ressourcen zu wirtschaften.
„An den Universitäten in Leipzig und Halle-Wittenberg, dem Hallenser Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig wird seit etwa zehn Jahren über Nomaden und ihren Beziehungen zu sesshaften Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart geforscht. Beim Forschungsverbund „Differenz und Integration“ werden geographische, soziologische, ethnologische und politische Fragestellungen zum Nomadismus bearbeitet. Der Band kann als differenziertes Zwischenergebnis der interdisziplinären Forschungen von nomadischen Lebensweisen gestern und heute angesehen werden. Es sind besonders die historischen und gegenwartsbezogenen Fallbeispiele der vielfältigen Verflechtungen der Nomaden mit sesshaften Bevölkerungsgruppen von Marokko im Westen, dem Sudan im Süden, Sibirien und China im Nordosten, die die verschiedenen wie gemeinsamen Strukturen nomadischer Lebensformen aufzeigen.“
„Reiz und Charme dieser eher als feuilletonistische Essays denn als wissenschaftliche Abhandlungen zu verstehenden Beiträge liegen in der Authentizität ihrer Inhalte: Es handelt sich entweder um historisch fundierte und mit Quellentexten versehene Interpretationen nomadischer Aktivitäten der Vergangenheit oder aber um selbst recherchierte Fallstudien aktueller Entwicklungsprobleme nomadischer Restgruppen. Insgesamt: eine vergnügliche Lektüre für alle, die sich für facettenreiche Aspekte des Themas „Nomadismus“ interessieren.“
Eckart Ehlers in Erdkunde 2012, 66, 1: 88
‘Stabilität, meine Herren ist das Einzige mit dem wir nicht umgehen können’ – diese Aussage eines Händlers an der Chicago Board of Trade, dem größten Handelsplatz für Agrarerzeugnissen der Welt, kann unproblematisch auf die Situation von Nomaden und Pastoralisten übertragen werden. Aber im Gegensatz zu Händlern, die fremde Waren und fremdes Kapital verkaufen, ist die nomadische und pastorale Existenzsicherung unmittelbar mit ihrer Umwelt, den Transaktionen und ihren Risiken verbunden. Flexibilität und Mobilität ist Teil ihres Alltagslebens und sie sind tief in die Beziehungen zu Märkten eingeschrieben; allerdings in besonderer Weise, da sesshafte Wissenssysteme die Mensch-Umweltbeziehungen determinieren. Wir argumentieren, dass Pastoralismus als Landnutzungssystem in seiner Bedeutung für die Nahrungsversorgung und die Existenzsicherung von Millionen bisher unterschätzt wird. Dieser Band beleuchtet daher die Dynamik wirtschaftlicher Räume nomadischer und pastoraler Produktion sowie die daran gekoppelten Warenketten, die Nord-Südgrenzen auf vielfältige Weise überschreiten. Durch eine Kombination von Warenkettenanalysen mit denen zur Existenzsicherung wird die Neuausrichtung von Austauschbeziehungen empirischen Untersuchungen zugänglich. Die Fallstudien aus dem postkolonialen Afrika (etwa Tschad und Sudan), dem postsozialistischen Asien (etwa Tibet/China und Sibirien/Russland) und industrialisierten Ländern (etwa Australien, Neuseeland) zeigen wie Produktions-Konsumtionsbeziehungen bei Agrarprodukten und Nahrungsmittel über weite Distanzen hinweg zusammenwirken.
„The edited volume Economic Spaces of Pastoral Commodity Production provides a welcome addition to recent debates on contemporary pastoralism, its future and transformations. … The central unifying concern is the exploration of the tensions, connections and relationships between markets and livelihoods in diverse pastoral economies. This book is a valuable resource for general students of pastoralism, and especially for academic researchers in this field.“
Caroline Upton, in: Pastoralism: Research, Policy and Practice 2013, 3:27
“Economic Spaces of Pastoral Production and Commodity Systems: Markets and Livelihoods is a book that I was looking forward to with great expectation … because it covers an academic field that has been largely neglected. I can recommend this book so diligently edited by Gertel and Le Heron, a book that should become a must for … followers of a dogma of pastoralists being ‘non-economic’ peoples.”
Emilia Róża Sułek in: Nomadic Peoples, 17 (2) 2013, 104-109
Ernteausfälle in der Ukraine, spekulative Preissteigerungen am Chicago Board of Trade sowie Milliardendollarumsätze von Getreidehändlern wie Cargill kombinieren sich mit wachsender Armut und prägen die globale Nahrungsunsicherheit. Selbst wenn in Kairo die komplexen Krisenursachen verborgen bleiben, ist eines klar: »Aish« im ägyptischen Arabisch das Synonym für Brot und Leben wird immer teurer. Das Buch zeigt, wie im globalen Nahrungssystem Kairo zur Bruchzone neoliberaler Deregulation wird, und argumentiert – vor den Ereignissen des Arabischen Frühling – dass durch die bisherigen Nahrungsmittel-Proteste nur die Spitze globalisierter Nahrungskrisen sichtbar geworden ist. Basierend auf mehrjährigen Feldforschungen vor Ort verbindet das Buch die Perspektiven von ägyptischen Bauern, Groß- und Einzelhändlern in Kairo mit der staatlicher Bürokraten und denen der städtisch Armen in der wachsenden Metropole und zeigt wie die neoliberale Politik der vergangenen dreißig Jahre die Handlungsspielräume verschoben und die existenziellen Unsicherheiten für viele städtische Bewohner erhöht hat.
Das Buch untersucht verändernde Mobilitäten im Kontext der neoliberalen Globalisierung. Im Mittelpunkt steht die Situation von Nomaden und ehemaligen Nomaden in Marokko. Mobilität wird dabei als Strategie verstanden den Zugang zu Ressourcen zu erschließen oder gar zu erweitern. Die Autoren zeigen, dass die nomadische Existenzsicherung immer stärker von Prozessen bestimmt wird, die außerhalb der Tierproduktion stattfinden, etwa durch die Entstehung prekärer Lohnarbeitsmärkte (temporärer Arbeitsmigration), veränderte Eigentumsrechte (Privatisierung von Weiden) und neue Kommunikationstechnologien (Einsatz von Mobiltelefonen). Aufbauend auf intensiven Feldforschungen vor Ort zeigen die Beiträge die Genealogie der Konflikte über Weideland, die Konsequenzen der Überprägung tribaler Strukturen durch die Einführung von Kooperativen, die Dynamiken territorialer Neuorganisation durch neue Urbanisierungsprozesse, den Einfluss von Firmeninteressen bei der Wassererschließung, die Bedeutung des Grenzhandels und des Schmuggels sowie die Komplexität und Anfälligkeit der Strategien zur Existenzsicherung.
In den wachsenden Metropolen treffen zunehmend grundlegende Entwicklungsprobleme wie Armut und Hunger räumlich zusammen. Ungerechtigkeit und gesellschaftliche Widersprüche werden hier verhandelt, oft aus ungleichen Positionen. Besonders Nahrungssicherung, die für Städte lange als unproblematisch und garantiert galt, stellt nun eine Herausforderung für die Zukunft dar. Diese Edition beleuchtet die sozialen Prozesse, die ein metropolitanes Nahrungssystem konstituieren: die städtische Nahrungspolitik, die landwirtschaftliche Vermarktung und Zulieferung, die Rolle von Straßenverkäufern und Nahrungsmittelmärkten, geschlechtsspezifische Rollen beim Einkauf und der Zubereitung von Nahrungsmitteln, die unterschiedlichen Konsumgewohnheiten, Lebensstile, und die Repräsentation von Essen. Dieser Zugang über die soziale Konstitution des urbanen Nahrungssystems bietet Einblicke in die Materialität der Politik, Kultur und Ökonomie des Essens und zeigt damit auch die gesellschaftlichen Hintergründe von Nahrungsunsicherheit auf.
Im Mittelpunkt der historisch angelegten Stadtanalyse von Khartoum steht die Beleuchtung der Wohnraumprobleme. Von der vorkolonialen Periode über die Kolonialstadtausbildung im Gefüge des britischen Empires bis zur postkolonialen, formal unabhängigen Primatstadt wird die konfliktbehaftete urbane Entwicklung in den Blick genommen. Die Monographie zeigt, wie bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert neue ökonomische Mechanismen und Eigentumsrechte sowie mediale Dynamiken in Europa in das Geschehen vor Ort eingreifen. Symbolpolitik und militärisch-sicherheitspolitische Raumorganisation prägen die sudanesische Hauptstadt: der Union Jack – die britische Flagge – wird in die Stadtstruktur eingeschrieben und Khartoum als strategischer Brückenkopf des Empires organisiert. Die Stadt wird Umschlagplatz von Rohstoffen wie Baumwolle und Gummi Arabikum, Zentrum für die Ausbreitung von Geldökonomie und Lohnarbeit sowie Absatzmarkt für Fertigprodukte und Konsumgüter. Bauland wird in der Kolonialstadt zur Ware und auf Märkten gehandelt, die Kontrolle darüber mittels der Einführung von Landregister zentralisiert und die Nutzung durch britische Normen standardisiert. Die räumlich getrennten Native City (Omdurman) und Ideal City (Khartoum) schreiben die gesellschaftliche Segregation durch räumlich getrennte Nutzungszonen intern fort und manifestieren damit die Polarisierung des Wohnungsmarkts. Vor diesem Hintergrund zeigt die Studie wie es nach der politischen Unabhängigkeit (1956) in den 1970er und 1980er Jahren zur Entstehung von illegalen Siedlungen mit Hundertausenden von Flüchtlingen und Migranten kommt, die sich in bemerkenswerter Weise selbst organisieren, und warum dies in den 1990er Jahren letztlich in einer Massenvertreibung einmündet. Wohnraum bleibt, so wird deutlich, als Grundbedürfnis, als Spekulations- und Interventionsobjekt, als Instrument von Machtpolitik und als Symbol von Herrschaft umstritten und von unterschiedlichen Interessen durchzogen.
„Die ungemein inhaltsreiche, dichte und dennoch weit ausgreifende Studie geht von entwicklungstheoretischen Erklärungsansätzen in der geographischen Entwicklungsforschung (aus). [G]erade der Gegensatz der Analyse des kolonialen Khartoum gegenüber den Entwicklungstendenzen seit der formellen Unabhängigkeit des Landes liefern interessante und in dieser Ausführlichkeit selten gelesene und belegte Einzelheiten. [D]ie Arbeit besticht durch eine souveräne Kenntnis der entwicklungstheoretischen wie praktischen Literatur. Deren Verwertung in Verbindung mit historischer Dokumentation macht die Arbeit auch für Nicht-Geographen interessant und lesenswert. Sehr gut mit Tabellen, Diagrammen und Karten ausgestattet, verdient die Arbeit Anerkennung als gelungenes Beispiel moderner stadtgeographischer Forschung im Entwicklungskontext.“
E. Ehlers in: Geographische Rundschau (1995, 11: 678)